35

Die junge Frau stand die ganze Zeit schon vor der Tür des Hauses und starrte herüber. Sofi löste sich aus der Gruppe. Zunächst war sie unsicher, ob der Blick wirklich ihr galt. Deshalb blieb sie vor der Einfahrt stehen und erwiderte den Blick. Verglichen mit der Eingangstür der Botschaft wirkte die Frau klein und zierlich.

Der Augenblick schien sich auszuweiten, ohne dass sich eine der beiden rührte. Auf einmal ging die Frau los, als handelte es sich um eine schwere Entscheidung oder als wäre dem Entschluss ein quälendes Zögern vorausgegangen. Wahrscheinlich hatte sie aber nur eingesehen, dass Sofi als Polizistin nicht den Anfang machen und das Gelände ohne Genehmigung betreten würde. Beim Gehen sah sich die Frau nicht um und hielt den Blick auf Sofi gerichtet. Als sie Sofi erreichte, sah Sofi die Anspannung in den Augen der Frau.

„Frau Johansson? Sie sind die Kollegin, oder?“

Sofi nickte. Die Frau war aus dem Haus gekommen. Wahrscheinlich waren ihr Kjell und der Botschafter auf dem Weg begegnet.

„Carla Angelotti. Ich bin der Konsularattaché. Darf ich Ihnen etwas zeigen?“

Sofi folgte der einladenden Geste von Carla Angelotti und übertrat die Schwelle zum Gelände der Botschaft. Sie gingen nach Westen an der Umfassungsmauer entlang. Carla schwieg, und als es Sofi unbehaglich wurde, fragte sie, was ein Konsularattaché so tat.

„Konsularische Angelegenheiten. Visa, Erbscheine, Wahlunterlagen und Aire. Das ist ein Meldesystem für Italiener, die im Ausland leben.“

„Aha“, sagte Sofi. Ihr waren die Fragen ausgegangen. „So etwas gibt es bei uns nicht.“

„Ich weiß.“

Carla sprach wirklich ganz ausgezeichnet Schwedisch, dachte Sofi. Sie musste auch in ihrem Alter sein.

An der Innenseite der Mauer war ein Rosenbeet angelegt, das ungleichmäßig weit in den Garten hineinreichte und den Eindruck vermittelte, als hätten sich die Rosen hier aus eigenem Antrieb und ohne die eingreifende Hand eines Gärtners niedergelassen. Carla blieb abrupt an einer Stelle stehen. Die Rosen dufteten ihnen entgegen. Anscheinend waren sie auch das Ziel. Sofi rätselte, warum sich Carla ausgerechnet diese Stelle ausgesucht hatte. Jeder Meter der Mauer glich dem anderen.

„Die Rosen hat unser Gärtner Baldarelli angelegt. Ein alter Kauz. Er stammt aus der Gegend von Udine und ist in Italien eine Legende.“

Carla verriet ihr feines Schwedisch nur, als sie Namen ihres Heimatlandes aussprach. Das A war zu lang und das E zu kurz. Sofi lächelte.

„Zum einen ist er dafür berühmt, in jeder ungeeigneten Umgebung so eine Blumenpracht zaubern zu können. Zum anderen, weil er seine Gärtnerkarriere unter Mussolini begann.“

„So alt ist er schon?“

Carla zögerte. „Damit meinte ich nicht nur die Ära von Mussolini. Er war Mussolinis Privat- und Palastgärtner.“

Sofi ließ sich vor den Blüten auf die Knie sinken. Die meisten waren blutrot, andere hellrosa bis weiß. Mit dem Blattgrün ergab das die italienische Trikolore.

„Signore Maero hat ihn im Winter überredet, zu uns nach Schweden zu kommen. Es hat uns alle erstaunt, als er wirklich kam.“

Warum erzählt sie mir das, fragte sich Sofi. „Die Rosen sind wunderbar.“

Carla überging die Bemerkung. Sie war auf ganz ein bestimmtes Ziel ausgerichtet und wirkte am ganzen Körper angespannt. „Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist.“

Sofi stellte sich wieder hin. Der Augenblick für Rosen war vorüber.

„Der Alte hat ganz früh begonnen mit dem Anpflanzen. Im Mai waren schon die Triebe da. Er hat alles mit Holzrahmen eingesäumt und hauchdünne Glasscheiben darübergelegt. Vor vier Wochen in der Walpurgisnacht sind hier wie üblich die Autos vorbeigerast. Die Leute feiern weiter vorn beim Tivoli, und wenn sie dann betrunken sind, fahren sie in ihren Chevrolets die Straße entlang und nehmen mit quietschenden Reifen die Schlaufe um das Gelände. So ist es jedes Jahr. Aber diesmal hat jemand eine Bierdose über die Mauer geworfen und eine der Glasscheiben getroffen. Baldarelli hat das gehört und ist gleich hinausgelaufen, um die Scheibe austauschen. Damals fror es noch hin und wieder in der Nacht, und er wollte kein Risiko eingehen. Nach einigen Minuten kehrte er zurück. Sein Gesicht war vor Schreck ganz verzerrt. Er behauptete, ihm sei auf einmal eine Gruppe von Gespenstern in weißen Tüchern gegenübergestanden und hätte etwas gemurmelt, was er nicht verstehen konnte.“

„Hier in der Botschaft? Auf dem Gelände?“

„Ja, es war genau hier an dieser Stelle. Ich hatte Bereitschaftsdienst und saß unten bei Romano im Wachraum. Wir haben uns das Endspiel angesehen. AC gegen Madrid. Der Alte hat nur wirre Dinge von sich gegeben. Romano hat sofort den Garten inspiziert, konnte jedoch nichts entdecken.“

„Wie viele waren es?“

„Baldarelli sprach von zwanzig Männern. Das schien uns völlig aberwitzig. Es war Walpurgisnacht, und da kann so ein Scherz ja vorkommen. Baldarelli kannte das nicht aus Italien.“

„Kann man denn so leicht über die Mauer gelangen?“

„Es gibt Kameras, allerdings nur vier Stück. Daran kann man unbemerkt vorbeikommen. Die eigentlichen Sicherheitsschranken sind am Haus.“

Sofi notierte sich den Namen des Gärtners und das Datum auf ihrem Notizblock. Obwohl ihr die Stelle an der Mauer ein wenig willkürlich vorkam, zeichnete sie das Gelände als Kreis und markierte die Stelle darauf. Sie war günstig, wenn man an die dichten Büsche an der Außenseite dachte, aber sie war auch ungünstig, denn jenseits der Mauer fiel der Boden hier steiler ab als im Osten oder im Süden bei der Bushaltestelle.

Sofi schloss ihre Notizen ab. Etwas sträubte sich in ihr. Das lag wohl daran, dass sie mit Carla kein Verhör führen konnte, wie sie es gewohnt war. Eigentlich hätte sie sich nun ausgiebig darum kümmern müssen, wo das Motiv für so ein Eindringen liegen könnte.

„Warst du es, die vorhin die Polizei gerufen hat?“

„Ich habe die Gruppe ja sogleich wiedererkannt, auch wenn ich ihn nur aus Baldarellis Erzählung kannte. Das ist natürlich kein Spaß mehr, wenn …“ Sie hob die Hände und ließ sie dann seitlich auf ihre Beine klatschen.

Kein Spaß mehr, wiederholte Sofi in ihrem Kopf. Carla machte eher den Eindruck, als bebte sie innerlich vor Angst, auch wenn sie es einigermaßen geschickt verbarg. Hatte sie sich mit Maero abgesprochen, oder handelte sie aus eigenem Antrieb?

„Was hat denn der Botschafter damals dazu gesagt?“

„Er hatte denselben Eindruck wie wir. Ein Walpurgisnachtsscherz, Baldarelli hat sich in die Hose gemacht. Gestaunt haben wir erst, als er am Tag darauf sein Koffer packte. Aber das haben wir nicht so sehr auf das Ereignis selbst bezogen, sondern eher darauf, dass er schon ein Zittergreis war.“

03 - Der kopflose Engel
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